Es sollte ja nur ein kleiner Kurztrip sein.

Ich tanke verschmitzt den Dicken voll, entsage dem nordischen Flachland und freue mich aufgekratzt auf eine Woche im Sauerland, eine Woche ohne was vor zu haben, ohne stressige Check-Ins in irgendwelchen Billigfliegern nach Malle und ohne den Drang, endlich mal was machen zu müssen. Eine Woche mühli rumgammeln und viel essen, vielleicht ein wenig inlinern und ein wenig Mountainbiken.
Auf dem Dach mein Fahrrad, im Kofferraum die Inliner, die Gitarre, die Zahnbürste und ein kleines 3-Liter-Fass Dornfelder. Mehr brauche ich nicht. Im Tank weitere 80 Liter, diesmal aber Super Bleifrei vom Gegenwert des Bruttosozialproduktes eines mittleren afrikanischen Staates, aktuell und für die Nachwelt festgehalten 1,31 Euro pro Liter (das sind ZWEI MARK SECHZIG!!!).

Nun hat ein alter Freund von mir neulich sehr weise festgestellt, dass es im Sauerland sogar regnet, wenn der Rest der Republik in einer Dürrekatastrophe verendet. Ich kann das bei einem Temperaturschnitt von immer und permanent 5 Grad mehr als in Kiel nicht ganz nachvollziehen, aber dieses mal hatte er Recht.
Noch am Samstag ziehen umbra-dunkle Regenwolken auf, die sich schon in der Nacht über dem kleinen Städtchen "Da-wollte-ich-eigentlich-hin“ entleeren und ihren Freunden bescheid sagen, dass hier noch lange nicht Schluss ist. Das traditionelle Frühstück in einem kleinen Cafe im Stil der 50er Jahre fällt trotz end-leckerem Milchkaffee recht trostlos aus, denn sie stellt mir immer und immer wieder die Frage, was wir bloß eine ganze verregnete Woche lang machen sollen…
Plötzlich sehe ich dieses Leuchten in ihren Augen, und es wird mir Angst und bange. "Hey sag mal wir brauchen doch nicht viel, lass uns die Taschen packen, voll tanken und nach Italien fahren, oder Frankreich, oder irgendwohin wo es warm ist!"
Öh.
Da war es wieder, dieses Gefühl, was machen zu müssen. Gerade hatte ich mich mit dem Gedanken angefreundet, eine Woche lang nur zwischen Bett, Kühlschrank und Fernseher pendeln zu müssen, ENDLICH mal wieder der Couchpotatoe sein zu dürfen, der ich seit der Trennung von meiner Frau vor ziemlich genau einem Jahr nicht mehr sein kann und dann so was.
Noch verstärkt von der Tatsache, dass ich bei dem Satz "mal eben nach Frankreich" (auch wenn ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im absoluten Norden der Republik befinde) erstmal Durchschnittsbenzinverbräuche und Hotelpreise gegeneinander aufrechne und CO2 hin oder her auf jeden Fall auf eine ganz schlechte V8-Bilanz komme… so rein finanziell…

"Hey guck nicht so verknittert ich zahl das Benzin und die Hotels, du übernimmst das Essen, fährst uns heil hin und singst mir was vor".
Hm. Ich schaue auf die Uhr. Es ist Sonntag, 16.00 Uhr, es regnet und mir gehen die Argumente aus. Also? Was nun?

Keine 30 Minuten später finde ich mich in einem Audi V8 4,2 Baujahr 1993 sitzend bei 160km/h auf einer Autobahn wieder, die uns laut Navigationssystem binnen vier Stunden an Freiburg vorbei in die Schweiz bringen sollte. Im CD Wechsler läuft gute Musik, der Regen prasselt unvermindert an die Scheiben und ich entspanne mich ein bisschen, denn jetzt haben wir ein Ziel. Kennt ihr das auch? Männer brauchen immer ein Ziel. Zu viele Komponenten und Möglichkeiten machen nervös und unentspannt, aber wenn man sich erstmal entschieden hat ist das alles halb so wild. Unser Ziel in diesem Fall lautet einfach nur: Weg hier, irgendwo hin wo man die Sonne sehen kann.

"Ich zahl das Benzin" wird schon an der Grenze zur Schweiz lustig, als der Audi das erste mal nach Nachschub fragt. Hihi. Ihr solltet ihren Blick sehen, während die Zapfsäule das Lied vom sichtbaren Konsum singt. Völlig uneigennützig kaufe ich von meinem eigenen Geld eine Vignette (JAU Florian Glowatzki!) und wir überlegen, wie weit man es wohl heute noch schaffen könnte. Und wo wir eigentlich hin wollen.

Ob des völlig überstürzten Aufbruchs kann ich leider an der Grenze zu Emmental-Country mein Navi schlafen legen, da ich nur das Kartenmaterial für Deutschland dabei habe. Wer hätte denn auch gedacht, dass die Hormonschwankungen der Herz-Dame während ihres Eisprungs einen bis über die bundesdeutschen Grenzen treiben könnten??? Nun gut dass da noch die 15 Jahre alte Karte ist, die uns zumindest die grobe Richtung Süden zeigt.

Regen. Kälte. Dunkelheit.

Mailand wäre ein holdes Ziel gewesen, aber die Müdigkeit überkommt uns in trägen Wellen, die Grenze nach Italien ist nicht mehr weit (die war schon nicht mehr weit an der Grenze zur Schweiz, breit ist die ja nicht) und unter uns macht sich ein kleines dimmig beleuchtetes nettes Dörfchen breit, Fluelen am Vierwaldstätter See. Gedanken an einen Sonnenaufgang an der Seepromenade morgen früh, mit einem Croissant und einem Schümli Kaffee… Ja, hier wollen wir bleiben.

Aber nein, hier sollen wir nicht bleiben. Vielleicht liegts an der dramatisch späten Uhrzeit von 22.15 Uhr in Kombination mit dem Mitte-März-Bonus, ich weiß es nicht, jedenfalls haben alle Hotels schon zu bis auf eines… Dort empfängt uns eine gähnende Dame mit den Worten "Wennscht hia schlafn wollt müscht dann klingln i geh jetz nauf"… Bei soviel Gastfreundschaft häkel ich mir doch glatt spontan einen Schlafsack und penn auf dem Rücksitz… Das Benzin reicht noch für weitere Suchaktionen, die Lust eigentlich nicht, aber letztendlich landen wir mit angestrengt aufgerissenen Augen in der Fußgängerzone von Altdorf (ups hab ich da ein Schild nicht gesehen?) und finden ein schönes Hotel, wo unten in der Bar sogar noch Leben ist, außerdem ein klasse Herrenzimmer mir Whiskey-Schrank und Zigarren-Bar. Hier fühle ich mich zu Hause.
Oben auf dem Zimmer nehme ich den Raum in Besitz und stelle mein Weinfass auf. Home is where my Weinfass is. Das Bett hat mehr Grundfläche als mein ganzes Wohnzimmer, draußen auf dem Platz plätschert ein Brunnen (wenn Frauen das hören müssen sie immer und immer wieder auf die Toilette oder???) und wir versacken noch ein bisschen in der Bar. Eine Bedienung zwischen Anastacia und Melissa Etheridge empfiehlt den einen oder anderen Whiskey, die Musik ist gut und all die jungen Leute um uns rum sprechen einen Dialekt, den niemand versteht, am wenigsten sie selbst. Was machen die hier am Sonntag Abend so spät noch? Müssen die morgen nicht arbeiten…?

Am nächsten Morgen, Tag ZWEI unserer Suche nach der Sonne, öffne ich ein verklebtes Auge, richte es quietschend in Richtung offenem Fenster und versuche, ansatzweise zu begreifen, was das da draußen sein mag, was weiß und flockig langsam von oben nach unten rieselt. Fahr in den Süden und erlebe den Schnee. Immerhin erstreckt sich ein bis dato ob der Dunkelheit nicht gesehenes Bergpanorama um das Dörfchen herum, ich denk ich bin bei Heidi und Ziegenpeter…

Die Schweizer sind ein sympathisches Völkchen, sicherlich wert, studiert zu werden. Sie bereiten einem ein leckeres Frühstück mit allen erdenklichen Käsesorten, ein bisschen totem Schwein in dünnen Scheiben und einem fluffigen Weißbrot. Anbei eine Nuss-Nougat-Creme, tranig und harzig, eigentlich ein Fall für den Rechtsanwalt, aber im Abgang unerklärlich lecker. Schwer zu fassen. Genau so überraschend der Kaffee. In der Schweiz kocht man den ohne Wasser, man verlässt sich auf das autonome Hinzukommen reiner Luftfeuchtigkeit, was die Konsistenz semi-interessant macht. Die hübsche Frau mir gegenüber nimmt ohne rassistische Hintergründe das Wort Negerschweiß in dem Mund. Der Löffel steht von selbst in dem schwarzen Nass, ich stelle mir die Frage ob ich nach zwei Tassen je in meinem Leben wieder Schlaf finden werde.

Völlig unerwartet streicht sie sich eine Konfitüre auf ihr Brot, beißt ab und schaut mich an als ob irgend jemand, den ich nicht kenne, ihr gerade eine Nähnadel unter den Nagel des linken Zeigefingers geschoben hat. Ich muss euch warnen: "Wachholder Latwerge Confitüre von Eisenhut Original". Findet es. Und lasst es verschwinden. Ich sag da nicht mehr zu. Aber den Geschmack ist sie zwei Tage lang nicht los geworden…

ITALIA.
Was kommt gleich hinter der Grenze? DIE SONNE!!! Der Himmel reißt auf, sofort reiße ich auch, und zwar am Lenkrad in Richtung einer Parkbucht in einer Serpentine oberhalb des Comaer Sees. Eindrucksvolle Fotos von zwei glücklichen Menschen an einer Leitplanke über türkisem Wasser, unter tiefblauem Himmel und vor grün-grauen Bergen, das Unterhemd aus dem Pulli rausziehend, den Fotoapparat auf dem orangen Mülleimer im Schusswinkel leicht nach oben unterstützt mit einem Feuerzeug und einem 1GB Memorystick. Warum erwähne ich das? Weil die da noch immer auf jenem Mülleimer liegen. *groll*

Es geht bergab. Glaubt ihr nicht? Doch, tut es. Mit einem Benzinvorrat von nur noch 40 Litern und einer Geschwindigkeit von 120km/h bringt der V8 es auf eine Reichweite von 1100 Kilometern. Das wäre doch mal ein Bild für die Zweifler. Jawohl. Ich habe auch ein vier Liter Auto. Ha. (äh… oder ist hier NICHT der Hubraum gemeint?).

Coma.
Hier hat sich George Cloony ein Haus gekauft. Hier hat sich Sandman ein Eis in der (bis dahin) besten Eisdiele der Welt gekauft. Die Magnolien blühen, die Sonne wärmt Gesicht und Herz und man macht dies und das. Was denn? Auf jeden Fall Bruschetta essen und Latte Macciato trinken, weiterhin bekloppte Touri-Fotos vor mit süüüßen Häusern beklebten Berghängen über dümpelndem Seewasser schießen. Aber ich bin nicht mehr zu halten. Mailand ruft. Ich will weiter, schließlich habe ich vor nicht einmal 24 Stunden noch im verregneten Sauerland gesessen und Formel 1 geguckt. Das hier schmeckt nach mehr!

In Italien kann man immerhin die Autobahngebühren in Euro zahlen, in der Schweiz heißt jedes Geldstück Frank und benimmt sich ganz anders als man es aus Europa gewohnt ist. Aber dazu später. Beim Hacksteak auf dem Rückweg.

Mailand. Ist es nicht wunderschön? Die Skala. Die Piazza. Der Campo. Ich hab das alles schon mal in irgend einem Reiseführer gesehen. Was da nicht stand ist die Tatsache, dass es in Mailand keine öffentlichen Parkhäuser zu geben scheint. Die Innenstadt steht und rollt nicht, nirgend wo kann man nach irgend wo abbiegen, alle Straßen lotsen einem am Zentrum vorbei und an allen Parkplätzen stehen Schilder, die einem klarmachen, dass man unverzüglich abgeschleppt wird, wenn man auch nur daran denkt, hier sein Auto hinzustellen. Der Hunger und der Frust wachsen, immerhin gibt es eine erbarmungswürdige McDonald's Filiale, die uns mit abgrundtief dicht geschissenen Toiletten und unfreundlichem Personal nebst höchst seltsamem Klientel nicht nur nichts kaufen lässt, sondern auch eine Entscheidung erzwingt:
Das Mittelmeer KANN so weit gar nicht sein, als dass ich hier noch eine weitere Minute bleiben möchte.

Also Richtung Süden. Auf irgend einer Karte steht was von Genua, scheint eine wie üblich stinkende aber am Meer liegende Hafenstadt zu sein. Zwischendurch wird mir klar, dass ich erst einen Tag im Urlaub bin und gestern um diese Zeit noch nicht mal im verregneten Sauerland gefrühstückt hatte. Und nun sitze ich mit einer hübschen Frau und einem fast leeren Tank in jenem Audi V8 und fahre an die italienische Mittelmeerküste. Ist das Leben nicht schnell und schön?

Niemand sollte ausrechnen, wie viele Schalentiere in wie vielen Millionen Jahren unter wie vielen Milliarden Tonnen von Sand und Gestein gepresst und unter Abschluss von Luft zu dem geworden sind, was dann ein wenig später von Männern mit Schirmmützen wieder nach oben gepumpt wurde und unter erheblichem technischem Aufwand von einer öligen Brühe zu etwas hoch explosivem raffiniert wurde, nur um im Jahre 2007 dann im Rauminhalt von gut vier Milchtüten in meinem Auto wieder verbrannt und in Wärme und Bewegungsenergie umgewandelt zu werden. Es waren bestimmt viele. Ich danke euch, ihr Krebse und Muscheln und Hummer der Vorzeit, dass ihr mir dieses V8-Blubbern fern der Heimat schenkt und gleichzeitig derart viel Pest in die Luft blast, dass ich mein Auto aus Höflichkeit gar nicht erst an diesen Abgasdiskussionen teilnehmen lasse.

Genua. Hafenstadt am Mittelmeer. Es ist Nachmittag, und eigentlich ist Italien hier nicht so schön. Viele Fabriken. Also weiter in Richtung Westen, in Richtung Cote d'Azur, wo ich vor über 13 Jahren das letzte mal war, damals, mit meinem 1975er Granada Coupe. Natürlich bin ich stolz, Genua zu umgehen und nicht im Innenstadtstress festzustecken, natürlich sagt sie "äh sag mal hätten wir nicht über diese Brücke da fahren müssen?" und natürlich stehen wir anschließend eine Stunde im Innenstadtstress… Ein Lobgesang auf die Automatik. Nicht nur in den Bergen, nein auch in verhupten italienischen Innenstädten ist sie ein Quell der Wonne.

Und da tut sie sich auf, die Mittelmeerküste!!! Unter Palmen, noch recht aufgewühlt aber langsam netter werdend. Ein Auto-intensiver Tag neigt sich dem Ende. Viele Fragen bleiben offen.
Werden wir ein nettes Hotel finden?
Wird unsere Reise noch bis Frankreich gehen?
Hält der V8 durch und was wird noch passieren???

Freut euch auf weitere Meldungen von 20Grad am grünen Wasser, 1Grad bei 1260 Metern Höhe und Schnee, Gruselgeschichten aus den dunklen Alpen und nicht aufhören wollenden weiblichen Orgasmus-Schreien aus dem Nebenzimmer…
Aber nicht mehr heute, es ist nach Mitternacht, mein Backup-Laptop macht Geräusche ähnlich einem startenden Verkehrsflugzeug und ich muss morgen nach Pinneberg. Bis bald mit Teil 2…

Sandman

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Alles wird gut.

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